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  • cljaeggi

Gedanken zu Neuroinklusion



«Neuroinklusion - schon wieder so eine unnötige neumodische Wortschöpfung!» mögen manche denken. Ich jedoch halte diesen Begriff für gehaltvoll und absolut notwendig zum Gebrauch in der Diskussion über Integration und Inklusion. [1]


Gerne führe ich an dieser Stelle das Thema «integrative Schule in der Ostschweiz und deren Umgang mit Neurodiversität» an. Wenn man beispielsweise die kantonalzürcherische Klassifizierung der Sonderschulen betrachtet, so lässt sich davon gut ableiten, welche Kinder und Jugendlichen als «einzugliedern» betrachtet werden: Es sind drei Angebotstypen, einer für Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen in den Bereichen Verhalten, Lernen oder Sprache, ein zweiter für Kinder und Jugendliche mit Körper-, Sinnes- oder Mehrfachbeeinträchtigungen (mit oder ohne kognitive Beeinträchtigung) und ein dritter für Kinder und Jugendlich mit kognitiven Beeinträchtigungen. Diese Kategorisierung halte ich für problematisch. Eigentlich wäre die Unterscheidung von Krankheiten und Entwicklungsstörungen zweckmässig, hier wird jedoch bunt gemischt… Die Volksschul-Kategorie «Körper- und Sinnesbeeinträchtigungen» sind in den internationalen Klassifizierungen hauptsächlich als Krankheiten klassifiziert (wobei beispielsweise die auditive Wahrnehmungsstörung eine Störung der Sinne mit einschliessen kann, aber unter Entwicklungsstörung gehandelt wird oder eine Enuresis (Einnässen) eine Krankheit darstellt, die jedoch gehäuft komorbid mit Entwicklungsstörungen auftritt), die Volksschulkategorie «Verhaltensstörungen» wird in den internationalen Klassifizierungen mehrheitlich den neurologischen Entwicklungsstörungen zugeschrieben (APA 2013, DIMDI 2022). Mit dem Begriff «Beeinträchtigungen im Bereich Verhalten» schöpft das Schulamt also mit grosser Kelle aus vielen verschiedenen Töpfen, fokussiert nur ein symptomatisches Kriterium, und vermischt, verwechselt und verkannt dabei manches Mal unterschiedlichste Störungsbilder!


Aber zurück zu den ostschweizerischen Integrationsbemühungen in der konkreten Praxis: Es werden vor allem jene Kinder als einer integrativen Beschulung bedürfend erachtet, welche entweder eine neurokognitive Beeinträchtigung (beispielsweise aufgrund einer Hirnhautentzündung), oder eine akute Belastungsstörung (beispielsweise Flüchtlingskind mit Kriegstrauma), oder eine affektive Störung (beispielsweise depressive Jugendliche mit Selbstverletzungstendenzen), oder eine Intelligenzstörung (was der Volksmund als «geistige Behinderung» bezeichnet), oder eine Erkrankung des Körper- oder Sinnesapparates (beispielsweise Lähmung oder Blindheit) aufweisen. Es gibt vielerlei Integrationsbemühungen diesbezüglich, und alle Beteiligten sind sich fast immer darin einig, dass die betroffenen Kinder eines angepassten Settings und des besonderen Schutzes bedürfen (das sind dann die «armen, die nichts dafür können»). Auf der anderen Seite gibt es noch die doch recht zahlreichen Entwicklungsstörungen (die Häufigkeiten übersteigen diejenigen der meisten anderen Störungen, ausgenommen depressive und Angststörungen), welche (wohl auch aufgrund des mangelnden Fachwissens) in den Topf der «Verhaltensstörungen» geworfen werden, u.a. auch ADHS oder Autismus. Neurodivergenz wird in der schulischen Praxis immer noch mehrheitlich als Verhaltensauffälligkeit interpretiert, mit Konnotation von intentional oppositionellem Verhalten (das sind dann die «mühsamen, die einfach nie das machen, was sie sollten»).

Im medizinischen Krankheitsverständnis ist jedoch sowohl die Panikstörung, als auch die Minderintelligenz und das ADHS im Bereich der «psychischen und Verhaltensstörungen» anzusiedeln (DIMDI 2022). Es ist nicht angebracht, hier eine Unterscheidung innerhalb der Kategorie der Krankheiten nach einer Hierarchie des Schweregrades oder des Integrationsbedürfnisses vorzunehmen, und schon gar nicht dürfen hier (implizite) Schuldzuweisungen getätigt werden, wie es in der schulischen Praxis jedoch leider noch allzu oft passiert (wenn man beispielsweise einem autistischen Kind sagt, es passe nicht in die Klasse, weil seine Eltern es nicht im Griff hätten).


Genau darum plädiere ich für die Verwendung des Begriffs der Neuroinklusion – weil damit eine Objektivierung stattfindet und alte Bewertungsmuster hinterfragt werden.


Natürlich gibt es noch andere Gründe, welche die Begriffseinführung rechtfertigen. Auch gerade solche, welche nicht defizitär ausgerichtet sind, sondern die positiven Seiten, die Möglichkeiten und Bereicherungen von Neurodiversität betonen. Aber um es polemisch zu formulieren: Um dahin zu kommen, dass die Gesellschaft Neurodivergenz als bereichernd empfindet, müssen wir zuallererst einmal davon wegkommen, sie als selbstverschuldet zu betrachten.


Claudia Jäggi

05.12.2023

 

Literaturverzeichnis

 


[1] In der Schweiz hat man sich für die Variante der integrativen Schule als Umsetzung der in der UN-Behindertenrechtskonvention festgeschriebenen Beschlüsse entschieden. Im hiesigen Verständnis bedeutet Integration die Einbindung von Menschen in Systeme, die für die Allgemeinheit geschaffen wurden (SZH 2016).

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