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Warum scheitern autistische Kinder an der Schule?



Die Gehirne von Kindern aus dem Autismusspektrum sind genauso lernbereit wie neurotypische. Aber sie lernen in einigen Bereichen anders. Oftmals wird ihr funktionales Anderssein auch „übersehen“, denn die „Behinderung“ ist nicht immer offensichtlich. Neurokognitive Störungen werden deshalb, vor allem im englischsprachigen Raum, auch „versteckte Krankheiten“ („hidden deseases“) genannt. Fehlendes Störungswissen und Neglect der Diagnose führen beide oft zu konstanter Überforderung bzw. Fehl-Förderung der betroffenen Kinder. Um es mit Remo Largos Worten auszudrücken: diese Kinder erleben in der Schule täglich ein Mis-Fit! Wenn eine Lehrperson sich darauf einlässt nachzuvollziehen, wie autistisches Denken und Lernen funktioniert, kann sie ihr Unterrichtssetting so anpassen, dass auch für das autistische Kind ein einigermassen effizientes und effektives Lernen möglich ist.


Thomas Girsberger schreibt in seinem ersten Buch über Autismus, dass es dem autistischen Kind oft solange gut geht, bis es sich mehr von der Familie lösen und in die Aussenwelt hinaustreten muss. Zu diesem Zeitpunkt treten meist erstmalig Verhaltensstörungen und Trennungsängste auf. Dies liegt daran, dass die sozio-emotionale Entwicklung der Kinder aus dem Autismusspektrum (in logischer Konsequenz der Entwicklungsstörung) langsamer voranschreitet als ein neurotypischer Entwicklungsverlauf. Deshalb bedürfen diese Kinder noch (viel) länger der Co-Regulation durch eine vertraute Bezugsperson. Weil in der hiesigen Bildungslandschaft der Instruktionsanspruch den Betreuungsanspruch bereits im Kindergarten stark zu verdrängen versucht, kann das Lehrpersonal im Kindergarten dieses Bedürfnis nach hochschwelliger Co-Regulation nicht befriedigen. Beim autistischen Kind kommt es also zu Verlustängsten und Fluchtreaktionen.


In der westlichen Postmoderne setzt mit dem Eintritt ins Schulsystem die "Vergesellschaftung" des Kindes ein, wie Sozialpädagoge und Transitionsforscher Lothar Bönisch beschreibt. Schule erfasst das Kind in seiner Schüler-Rolle, nicht in seinem Schüler-Sein. Das Kind muss sich zwischen diesen beiden Polen hin- und her bewegen. Sicher gebundenen neurotypischen Kindern gelingt dies recht gut und fast automatisch; das neurotypisch genormte schulische Umfeld ermöglicht ihnen eine schlanke Transition ohne grosse energetische Einbussen. Beim autistischen Kind sieht das ganz anders aus; dieses muss sich jeden Augenblick, den es in der Schule verbringt, mit der Schülerrolle maskieren, wenn es in der neurotypischen Umgebung bestehen will. Die Normen der Schule passen auf die lebensweltliche Aneignungstrategie eines autistischen Kindes wie ein Fisch auf den Baum...


Schule ist zudem von ihrer Institutionslogik her zukunftsorientiert. Diese Zukunftsorientierung stellt nach Transitionsforschung für alle Kinder eine Herausforderung dar, weil ihr Erleben gemäss ihrer Entwicklung noch sehr gegenwartsorientiert ist. Wenn die Zukunftsorientierung also bereits für die neurotypischen Kinder schwierig zu fassen ist, wie soll sie dann ein autistisches Kind verstehen, welchem der intuitive Zugang zum Normverständnis völlig fehlt?


Im Einzelfall gibt es natürlich noch viele weitere Gründe, warum ein autistisches Kind an der Schule scheitern kann. Allerdings kann Schule für autistische Kinder auch gelingen. Aber nur, wenn genügend Normflexibilität vorhanden ist.


Claudia Jäggi

Juli 2024


Literaturverzeichnis

  • Böhnisch, L. (2023). Sozialpädagogik der Lebensalter. Beltz Juventa

  • Girsberger, T. (2016). Die vielen Farben des Autismus.Kohlhammer

  • Largo, R. (1999). Kinderjahre. Piper

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