
Als Lehrperson bin ich eigentlich ziemlich gut darin, Kinder zu motivieren. Ich kenne mich aus mit vielfältigen extrinsischen Motivationstechniken, ich weiss um positive Verstärkung und um den Anteil der Investition in die Beziehungsarbeit am Überwinden von Schwellen und am Erreichen von Meilensteinen. Wenn ich einem neurotypischen Kind im Schulalltag begegne, das mir sagt: "Nein, ich mache das jetzt nicht, ich kann das nicht", dann versuche ich, es bestimmt, aber wohlwollend-unterstützend zu motivieren, seine Aufgabe trotzdem in Angriff zu nehmen. Das Kind wird sich vielleicht nach der ersten Ermutigung nochmals abwenden und auf dem Nein bestehen. Bei der zweiten Ermutigung wendet es sich aber mir zu, schaut mich an... und ab der dritten findet es Halt in meiner Ermutigung und spiegelt sie mit seiner eigenen Motivation und nimmt die Aufgabe in Angriff. In den allermeisten Fällen ist das bei neurotypischen Kindern so. Sie profitieren von der wohlwollenden Beg-Leitung im Sinne eines geschützten Wegweisens durch die erwachsene Bezugsperson.
Im Gegensatz dazu habe ich während meiner langjährigen Arbeit mit autistischen Kindern gelernt, dass ich trotz sehr guter Methodenkenntnis kolossal darin scheitere, Kinder aus dem Spektrum zur Überwindung dessen zu bringen, zu dem sie initial nein sagen. Sie werden duch wohlwollende Ermunterung auch nicht angetrieben, und meine Motivationsenergie strahlt auch nicht auf sie ab. Im Gegenteil - sie fühlen sich dadurch in die Ecke gedrängt, bedroht und nicht selten löst dies einen sogenannten autistischen Meltdown aus.
Bedeutet das nun, dass ich bei einigen Kindern einfach nicht fähig bin, sie zielführend zu ermuntern? Oder bedeutet es, dass das autistische Nein ein anderes Nein ist als dasjenige der neurotypischen Kinder?
Wahrscheinlich trifft beides zu. Auf der einen Seite kann ich neurotypische Kinder gut motivieren, weil ich verstehe, wie sie denken. Aber bei autistischen klappt das nicht. Das liegt daran, dass ich auch als mitfühlende oder hochsensible Bezugsperson dennoch nie ganz ins autistische Denken eintauchen kann. Ich kann es nachvollziehen, aber ich kann es nicht denken. Andererseits wissen wir um die Tatsache, dass Menschen im Spektrum eine ganz andere Reizfilterung haben und aufgrund ihrer Ausgangsschwierigkeiten in sozialen Interaktionen schon mit einem ganz anderen, nämlich einem verminderten, Energielevel an eine Aufgabe oder Anforderung herantreten. Wo neurotypische Kinder auch bei anfänglichem Widerstand noch über genügend Restenergie verfügen, um sich zu überwinden und die Aufgabe zu bewältigen, stehen autistischen Kindern keine solchen Reserven zur Verfügung, weil sie schon durch die alltägliche Anpassungsleistung an die neurotypische Norm ihre Reserven anzapfen müssen. Wenn also ein autistisches Kind spontan und bestimmt "Nein!" sagt, dann bedeutet diese Nein nicht "ich traue mir das jetzt nicht zu", sondern "es geht nicht, weil das sonst die Grenzen der mir zur Verfügung stehenden Energien sprengen würde".
Kinder im Spektrum sagen selten Ja, was oft als Motivationsleck interpretiert wird. Dies ist es aber nicht, denn autistische Kinder haben einen stark geschärften Gerechtigkeitssinn, sind extrem loyal und würden nie zu etwas Ja sagen, betreffend dessen sie sich nicht zu 100 % sicher sind, dass es auch geleistet werden kann. Wenn sie sich nur zu 95 % sicher sind, sagen sie nicht Ja.
Ein neurotypisches Ja dagegen ist flexibler - und hier sehen wir die Parallelen zum Nein. Der flexible Bereich beim Autisten liegt zwischen Ja und Nein. Wenn autistische Kinder sagen "hm", "ich weiss nicht", "mal schauen", "vielleicht" oder "keine Ahnung", dann sind sie in der Zone, wo sie mit externem Zuspruch noch ermuntert werden können. Wenn sie Nein sagen, ist das Nein abschliessend. Und es ist von zentraler Bedeutung für eine Beziehung auf Augenhöhe, dass die Bezugsperson dieses Nein auch sofort und ohne zu werten akzeptiert.
Claudia Jäggi
Feb. 2025
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