Autismus ist ein Spektrum. In der neusten Klassifizierung der Krankheiten wird er als "Autismusspektrumstörung mit X Unterstützungsbedarf" beschrieben, wobei das X für "mild" bis "sehr hoch" stehen kann - je nach Ausprägung. Genauso wie es auch z.B. Menschen mit Trisomie 21 gibt, welche die Uhr nicht lesen können, aber auch solche, welche Bücher in einer Fremdsprache lesen. Ein Spektrum eben.
In unserem Schulsystem (CH) werden bei Übertritten in neue Klassen oder Stufen möglichst wenige Daten über die Schüler:innen weitergereicht. Zum einen gebietet dies der Datenschutz. Aber auch die tief verwurzelte Schweizer Mentalität mit dem Wunsch, möglichst neutral und unauffällig durch den Tag zu navigieren, spielt da mit. Und vielleicht auch noch das Bemühen zur Sicherstellung von Chancengleichheit. Deshalb vertreten viele (die meisten) Lehrpersonen die grundsätzlich gut gemeinte Haltung: "Wir schauen erst mal, wie es kommt", wenn ein autistisches Kind in eine neue Klasse integriert wird. Daraus ergibt sich, dass im Vorfeld keinerlei Unterstützungs-Massnahmen erwogen, beantragt oder installiert werden.
Für autistische Kinder mit mildem Unterstützungsbedarf kann das tatsächlich funktionieren - und auch eine Chance sein, sich zu assimilieren. Für alle übrigen autistischen Kinder beginnt der Leidensdruck.
Ein Problem ist sicherlich, dass Autismus nicht nach Aussen sichtbar ist - zumindest nicht auf den ersten Blick oder für das ungeschulte Auge. Käme nämlich ein Quadriplegiker im Rollstuhl in die neue Klasse gefahren, wären bereits im Vorfeld Dispensationen (Sport, Ausflüge...) gesprochen, bauliche Veränderungen (Lift, rollstuhlgängige Toiletten...) getätigt und personelle Unterstützung (Klassenassistenzen, Beratungsperson...) sichergestellt worden. Wenn ein Autist mit medizinisch ausgewiesenem mittleren bis hohen Unterstützungsbedarf in die Klasse kommt, geschieht im Voraus erstmal nichts.
In der Folge scheitern die autistischen Schüler:innen mit mittlerem bis hohem Unterstützungsbedarf bereits in den ersten paar Schulwochen kolossal, weil sie im neurotypisch strukturierten Umfeld einfach nicht allein zurechtkommen (daher ja der Unterstützungsbedarf). Nicht selten kommt es bereits nach ein paar Tagen zu psychosomatischen Reaktionen, eine generelle Überforderung staut sich auf, welche sich in heftigen Meltdowns Luft machen muss. Dies kann bis zu Schulverweigerung bereits kurz nach Schulstart führen, im schlimmsten Fall erleidet das Kind ein autistisches Burnout.
Ab diesem Zeitpunkt wird die Schule in der Regel aktiv und probiert innerhalb ihrer limitierten Möglichkeiten (Finanzen, Personal, Abläufe...) alles, um die Situation für alle erträglicher zu machen und die schulische Integration zu retten. Lehrer:innen sind den Kindern wohlgesonnen, Schulen möchten, dass alle Kinder sich darin wohl fühlen. Leider ist es aus Sicht des betroffenen autistischen Kindes (und seines familiären Umfeldes) dann oft zu spät, die Integration gescheitert, das Kind muss in die Schule gezwungen werden.
Wie kann so eine Situation verhindert werden?
Eine Garantie zur Verhinderung gibt es nicht. Aber es gibt Möglichkeiten, wie die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten einer solchen Situation drastisch verringert werden kann. Und dies ist bei autistischen Schüler:innen mit mittlerem bis hohem Unterstützungsbedarf tatsächlich die frühzeitige (bestenfalls vor-zeitige) Installierung ebendieser Unterstützung, welcher das Kind bedarf. Dazu muss im Voraus genau hingeschaut werden, was das betroffene Kind an Hilfestellungen genau braucht. Diese bedurften Hilfen können sehr unterschiedlich ausfallen! Unterschiedlicher jedenfalls als die Rampen für Rollstuhlfahrer oder den Braille-Computer für Sehbehinderte. Um sinnvolle (und daher nützliche) Hilfen für das Kind zu installieren, muss unbedingt vorab ein Dialog mit der Familie und dem Helfersystem des Kindes geführt werden. Dabei sollte auf das Erfahrungswissen der früheren und der aktuellen Bezugspersonen zugegriffen werden. Insbesondere Eltern sind hier als starke Ressource anzusehen, denn sie können am besten und genausten berichten, welche Hilfen für ihr Kind sich in der Vergangenheit als effektiv erwiesen haben. (Dies gilt für psychosozial gut funktionierende Familiensysteme. Dysfunktionale Familien oder Familien mit kindsgefährdendem Hintergrund sind ausgenommen, da wendet man sich in erster Linie an die Fachpersonen. Aber aufgepasst: Nur die Tatsache, dass in der Familie ein autistisches Kind mit mittlerem bis hohem Unterstützungsbedarf lebt, macht die Familie noch keinesfalls dysfunktional!)
Was bedeutet das nun konkret für die das autistische Kind aufnehmende Schule?
Je nach Fall kann das z.B. Folgendes bedeuten:
Einstellung einer Klassenassistenz in 1:1 Betreuung
Einrichten eines Rückzugsraumes
Umstellung des Mobiliars im Klassenzimmer
Erstellen, Bearbeiten und/oder Gewähren von Dispensationsgesuchen
Einbindung des schulpsychologischen Dienstes und der Schulsozialarbeit
enger Dialog mit den Eltern und dem Helfernetzwerk
Anschaffung von Hilfsmitteln wie noise cancelling devices, sensorisches Therapiematerial, Stellwände, visuelle Pläne
Duldung einer externen Bezugsperson im Klassenzimmer
thematische Erarbeitung der Themen "Autismus" und "Integration" mit der Gesamtklasse
Einholung von div. Schweigepflichtsentbindungen
Erstellung eines individuellen Förderplanes unter starker Berücksichtigung der überfachlichen Kompetenzen mit Einbezug des Helfernetzwerkes
Erarbeitung eines individuellen "Nachteilsausgleichs" im Dialog mit dem Kind (oder dessen Stellvertreter)
Umbau der Garderobe
Installierung einer Begleitperson für Pausen und Übergänge
etc.
Natürlich müssen alle diese Massnahmen auch finanziert werden. Sie sind im Einzelnen nicht teuer, aber kumulieren doch zu einem Betrag, den die Schule nicht einfach vom "Tagesbudget" abziehen kann. Es muss dazu in den Topf des Sonderschulbudgets gegriffen werden, und dies ist für Schulen oftmals nicht einfach, weil entweder die entsprechenden Finanzen sowieso knapp sind, oder weil es schwieriger ist, auf politischer Ebene finanziellen Zusatzaufwand für eine "unsichtbare" Krankheit wie Autistmus zu rechtfertigen. Nichtsdestotrotz sollen Schulen nicht zögern, diesen finanziellen Zusatzaufwand stets einzufordern - nur so kann der Finanzierer dazu lernen. Und wenn man das grosse Ganze ins Auge fassen will: Eine solche "schulische Integrationsfinanzierung" ist immer noch bei Weitem kostengünstiger als eine Frührente für das Kind ab 18, weil es nie den regelmässigen Schulbesuch geschafft hat und dann als nicht beschulbar bzw. nicht arbeitsfähig gilt...
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